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– Theologie und Philosophie

Corona verändert Perspektiven – auch spirituell

Beitrag 7: Ulrich Dickmann: „Gott erkennen heißt wissen, was zu tun ist“. Zur Bedeutung der Gottebenbildlichkeit nach E. Levinas für eine Laienspiritualität

Die massiven Einschnitte in unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten in Folge der Corona-Pandemie verändern augenscheinlich unser »Lebensgefühl«, aber sicher auch Wahrnehmung und Denken. Die Perspektive, mit der wir auf uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen (in Familie, Nachbarschaft, reduzierten Kollegenkreis, im Supermarkt, auf dem Radweg…) blicken, scheint eine andere geworden zu sein. Welt verändert sich, das Wohnen zu Hause, für viele nicht nur behaglicher Rückzugsort, sondern auch Homeoffice und/oder zur KiTa/Home-School, bekommt einen anderen »Raum-Klang». Arbeit erhält einen anderen Stellenwert, neue Bedeutungsnuancen je nach Situation: ob als Pflegekraft, Kassiererin, Trucker – oder zu Hause am Laptop, in Kurzarbeit oder in Arbeitslosigkeit... Jene Frauen und Männer, die (an-)gespannt die Geburt ihres Kindes in diesen Zeiten erleben, machen wohl noch einmal andere Erfahrungen als »Eltern vor Corona«. Und in all der Ungesichertheit und Sehnsucht nach festem Grund gerät auch unser Bild Gottes neu in den Blick: Gott, der alles geschaffen hat (»auch COVID 19…?!«), steht wieder im grellen Licht der Theodizee-Frage auf dem Forum der Vernunft, die nach Gründen suchen mag, warum am Ende wie am Anfang doch »alles gut« ist. Wir scheinen ganz anders als zuvor auf einander verwiesen: wir und die anderen, gemeinsam Gottes Bilder und daher in neuer Weise herausgefordert, die Gegenwart und Zukunft mit und nach Corona neu miteinander »zu schaffen«, weil wir dazu geschaffen sind…

Die oben fett gesetzten Begriffe kennzeichnen Phänomene, die ein Feld aufspannen, das unsere »Internationale Forschungsgruppe für Laienspiritualität« seit 2004 erkundet: Laienspiritualität ist eine originäre Spiritualitätsform, die geprägt ist von ursprünglichen spirituellen Erfahrungen und Vollzügen, die mit dem Menschsein selbst gegeben sind und von einer gott-menschlichen Beziehungswirklichkeit zeugen. Sofern Menschen sich einer spezifischen Religion zugehörig wissen, legen sie diese »primordialen«[1] spirituellen Erfahrungen unter Bezugnahme auf die in ihrer Religion gegebenen Lehren, Erzählungen, Symbole und Praktiken aus. Auf diese primordiale Basis versteht sich im Grunde jeder Mensch, ohne sich auf ein Expertenwissen zu berufen: Der »Laie« findet den Maßstab seiner Spiritualität schon in sich vor.

Zu fünf Grundphänomenen der Laienspiritualität hat die Forschungsgruppe Themenbände in der Buch-Reihe »Felderkundungen Laienspiritualität«[LINK] vorgelegt: »Beziehung« (2008), »Geburt« (2010), »Wohnen« (2011), »Arbeit« (2013) und »Bild Gottes« (2017). Sie lesen sich angesichts unserer eigenen Erfahrungen in der Corona-Krise heute noch einmal anders als zu dem Zeitpunkt als sie geschrieben wurden. Daher möchten wir Ihnen in den kommenden Wochen in lockerer Folge einzelne Beiträge vorstellen – als Anregung zum Nach- und Weiterdenken aus Ihrer Perspektive.

02.02.2021 In Pandemie-Zeiten werden wir gestoßen auf die Verwundbarkeit der Menschen: derjenigen, die zu den sog. vulnerablen Bevölkerungsgruppen gezählt werden; aber wir werden auch neu aufmerksam auf die Ausgesetztheit und Zerbrechlichkeit, die es bedeutet, Menschen zu sein mit Körper und Geist, Leib und Seele. Was wäre, wenn diese Zeiten des Schreckens, der Einschränkung und der Abstinenz von Gewohntem, der selbstauferlegten oder erzwungenen Abkapselung von Lieben und Liebgewordenem eine alte Frage neu vernehmen ließen: Was bedeuten Humanität, Menschlichkeit, wahrer Humanismus? Für den Philosophen Emmanuel Levinas ist die unüberwindbare Abstand zum Anderen die Quelle der Humanität und der Würde (je)des Menschen, die sich im Ersten Testament der Bibel im Motiv vom »Menschen als Bild Gottes« artikuliert. Es ist als Grundmotiv der Spiritualität eingeschrieben in die Frage, die jeder Mensch an sich selbst richtet: »Was ist der Mensch?« Sie weckt unsere unersetzbare Verantwortung füreinander und lässt in uns eine Unendlichkeit vernehmbar werden, die geboren ist aus der Intuition der Menschlichkeit Gottes. Wie dieses Motiv philosophisch erschlossen und in seiner spirituell-praktischen Bedeutung mit unendlichem »Humanisierungspotenzial« für unsere Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft fruchtbar gemacht werden kann, sucht der Beitrag von Ulrich Dickmann zu zeigen.

>>Zum Beitrag: Ulrich Dickmann: „Gott erkennen heißt wissen, was zu tun ist“. Zur Bedeutung der Gottebenbildlichkeit nach E. Levinas für eine Laienspiritualität

 

 

Frühere Beiträge:

11.11.2020 Nicht selten sind es Zeugnisse von unter die Haut gehenden (nicht ganz) alltäglichen und literarischen Begegnungen, die zur tiefergehenden Reflexion herausfordern. Solche reflektierten Erfahrungen, wie die hier vorgestellte von Wolfgang Christian Schneider im Band »Bild Gottes«, bieten uns Sehübungen an: Sie schärfen die Augen für »einen Menschen«, der nichts anderem gleicht und doch überraschend viel mit mir gemein hat. Sieh, der Mensch! Ein verirrter Blick aus verwüsteten Augen. Menschen, die so arglos sie selbst sind, dass sie jeden Versuch, sich ein Bild zu machen, abbrechen lassen.

>>Zum Beitrag: Wolfgang Christian Schneider: Blick durch verwüstetes Auge. Eine Hildesheimer Erinnerung

 

22.06.2020 Die behutsame, offene Definition des Spiritualitätsforschers Kees Waaijman, Mitinitiator unserer Forschungsgruppe, Spiritualität sei „gottmenschliche[s] Beziehungsgeschehen“[2], weist auf die alles andere als selbstverständliche Tatsache hin, dass Beziehung Dreh- und Angelpunkt jedweder Spiritualität ist. Für Laienspiritualität hat sie eine insofern zentrale Bedeutung, als sich diese Grundform gerade auf dem Nährboden familialer Lebensformen und damit verbundener Daseinserfahrungen entwickelt, die schon in den alttestamentlichen Patriarchenerzählungen mit dem dort erfahrenen Gott in Verbindung gebracht werden. Davon zeugt unter dem schlichten Titel »Beziehung« der erste Band dieser Reihe mit Beiträgen über das biblische Mann-Frau-Verhältnis, die Paarbindung, den Familienalltag, die erotische Beziehung oder auch die Ehescheidung. Aspekte, die gerade in Zeiten des social distancing und Rückzugs in die eigenen vier Wände eine eigene Schärfe bekommen. Den Fokus auf das dynamische Beziehungsgeschehen zwischen Gott und dem Einzelnen, der geradezu herausgelöst wird aus dem Sippenverband, richtet der Beitrag von Claus F. Lücker über den Beginn der biblischen Abraham-Erzählung. Die göttliche Aufforderung: »Lēk lechāh« – »Geh für dich…!« wirft die Frage nach der dahinter stehenden Haltung auf. Ist sie spirituell paradigmatisch für einen glaubenden Lebensvollzug als Selbstwerdung?

>>Zum Beitrag: Claus F. Lücker: „Lēk lechāh“. Initium des abrahamitischen Weges

 

10.06.2020 Extremsituationen wie die gegenwärtige verstärken die Aufmerksamkeit darauf, dass wir Menschen trotz aller technischen und kulturellen Errungenschaften fragile Wesen bleiben, die den Unbilden der Natur ebenso ausgeliefert sind wie zutiefst angewiesen auf den Schutz und die Anerkennung der anderen. Der Mensch, jeder Mensch, ist geschaffen als Gottes Bild und deshalb gerade kein Exemplar einer Gattung, wie sehr er auch seinem Mitmenschen gleicht. Der Mensch als »Bild Gottes« ist ein Mensch in seiner Einzigartigkeit, jeder Mensch. Wir können »diesem Menschen als Bild Gottes« begegnen in einem eigenartig vertrauten Gesicht, das überhaupt nicht in den Rahmen einer bürgerlichen Gesellschaft passt. Künstler sind oft hervorragende Führer in diesem unerforschten Gebiet, das der Mensch ist. Ausgehend vom autobiographischen Romanwerk des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård lädt Burkhard R. Knipping, Referent für Beziehungs- und Ehepastoral in der Abteilung Erwachsenenseelsorge im Generalvikariat des Erzbistums Köln, in seinem Beitrag ein zu einer literarischen Begegnung mit zutiefst menschlichen und zugleich verstörenden Dimensionen unseres Daseins und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Christus-Beziehung.

>>Zum Beitrag: Burkhard R. Knipping: „Und es war wirklich Christus“. Überlegungen zur Laienspiritualität anhand ausgewählter Romane von Karl Ove Knausgård

 

02.06.2020 Die Tatsache, geboren zu sein, ist Schwindel erregend. Sie bringt uns zu den Grenzen des Denkbaren und des Machbaren. Wir wissen, dass wir geboren sind, doch fehlt jegliche innere Erfahrung unserer eigenen Geburt – ein Hinweis vielleicht, dass sie noch in vollem Gange ist.

Die Beiträge des Bandes zum Thema »Geburt« machen diese Erfahrung zum Ausgangspunkt für Überlegungen zum Thema »Laienspiritualität«. Geburt wird hier nicht als biologisches, soziologisches oder kulturelles Phänomen betrachtet, sondern als eine Gegebenheit, von der auch die Betrachter selbst betroffen sind. Das Geboren-Sein »spirituell« zu betrachten, heißt, nach seiner Bedeutung für das gesamte konkrete Leben und nach der inneren Wandlung zu fragen, die sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Erfahrung der Geburt im Rahmen eines Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch tatsächlich zu ergeben scheint. Nicht nur unser eigenes Geborensein ist eine »Grund-Erfahrung«, die spirituell gedeutet wird, sondern auch die Tatsache, Mutter oder Vater zu werden und zu sein. Die Theologin Rianne Jongstra, pastorale Mitarbeiterin in einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Maastricht, beschreibt in ihrem Beitrag aus der Perspektive als Mutter sehr persönlich ihre Erfahrungen vor und nach der Geburt ihrer Tochter und wie es dabei »meiner Seele ergangen« ist.

>>Zum Beitrag: Rianne Jongstra: Mutter werden: Schule des Loslassens

 

25.05.2020 - Die Ambivalenzen, die nicht erst in unserer Gegenwart mit dem Phänomen Arbeit verbunden sind, greifen die Beiträge des vierten Bandes der Reihe auf: Arbeit als mühevolle Last, unumgänglich zum Daseinserhalt des Menschen, und zugleich Quelle von Identität und Selbstentfaltung - vielleicht rückt uns die Spannung von Not-Wendigkeit und freiheitlichem Selbstvollzug anlässlich der Auswirkungen von Corona noch einmal besonders nahe.

Arbeit ist jener Grundvollzug, in dem sich am deutlichsten konkretisiert, dass menschliches Leben wesentlich Praxis ist. Dies ist zentral für die Laienspiritualität, denn sie ist eine Sehweise, die sich nicht vollzieht im Nachsinnen über …, sondern in den alltäglichen Aufgaben, deren Verrichtung Menschen ganz unhinterfragt spirituelle Bedeutung beimessen.

Diese wesentliche Einsicht wurde erstmals am Übergang zur Neuzeit explizit zum Programm erhoben in der sog. Devotio moderna und bei Nikolaus von Kues. Spiritualität zeigt sich hier nicht als theoretisches Wissen, sondern als praktischer Vollzug: in der täglichen Arbeitdes Handwerkers und der Weberin. Spiritualität – bis dahin Sache der geistlichen »Profis« – wird hier den sog. »Laien« zugesprochen, die nicht zu den theologisch und spirituell Gebildeten gehören, sondern in ihrem alltäglichen Tun eine Nachfolge Christi leben, die aus einer Ursprünglichkeit schöpft. Geboren aus dem Eigenen[3], findet diese Spiritualität ganz unvermittelt Wege, die eine lebendige Gottesbeziehung im alltäglichen Tun verwirklichen.

Die Arbeit wird damit aus jener Bestimmung befreit, die von der Antike bis zum Mittelalter vorherrschte, als Arbeit den Menschen vermeintlich von seiner Bestimmung abhielt: der Schau Gottes. Diese Aufwertung der Praxis gegenüber der Theorie, bei der Arbeit und Kontemplation zusammen gedacht werden, widmet sich der Philosoph Prof. Dr. Inigo Bocken (geb. 1968), Wissenschaftlicher Direktor des »Titus Brandsma Instituut« der Radboud-Universität Nijmegen  in seinem Beitrag.

>>Zum Beitrag: Inigo Bocken: Arbeit als Kontemplation. Die Bedeutung der Devotio moderna für unsere Zeit

 

18.05.2020 Den Anfang macht – aus dem Band »Wohnen« – ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Knieps-Port le Roi (geb. 1961), Inhaber des INTAMS Chair for the Study of Marriage & Spirituality at the Faculty of Theology and Religious Studies, Kath. Universität Leuven/Belgien:

Er nimmt das Wohnen vom familialen Lebenskontext her in den Blick. Das anscheinend Vereinzelt-Zufällige der Lebensvollzüge des Wohnens zeigt sich als sozialer Zusammenhang, der nicht nur Gegenstand einer intensiven Diskussion in der Theologie vor allem des englischsprachigen Raums ist, sondern tatsächlich als Ansatz einer im Leben ansetzenden Spiritualität gelten kann. Einkehr und Auszug, Bleiben und Aufbrechen, Halten und Loslassen stellen eine unaufhebbare Spannungseinheit dar, die das menschliche Leben durchzieht und auch konstitutiv für eine christliche Laienspiritualität ist. Das Annehmen des unmittelbaren familiären Lebens kann zur konstruktiven Unterbrechung werden und zur Selbstüberschreitung führen, die ein umfassenderes Erleben eröffnet.

>>Zum Beitrag: Thomas Knieps-Port le Roi: Halten, als hielte man nicht. Annäherung an eine Spiritualität des Wohnens aus der Perspektive der Familie

 

 >>Zum Fachbereich THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE

 



[1] Etymologisch leitet sich »primordial« ab vom lateinischen primus (»erster«) und ordiri, was »anfangen«, »entstehen«, »seinen Ursprung nehmen« bedeutet.

[2] Kees Waaijman: Handbuch der Spiritualität, Bd. 2: Grundlagen, Mainz 2005, 129ff.

[3] Das lat. idiota (»Laie«) leitet sich ab von idios – selbst/eigen.