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Brücken bauen zwischen Juden und Christen

Jahresempfang der Katholischen Akademie Schwerte

Der Jahresempfang der Katholischen Akademie Schwerte am vergangenen Sonntag, 17. Okt., stand im Zeichen des Gedenkjahrs »1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Akademiedirektor Prälat Dr. Peter Klasvogt hieß 90 geladene Gäste, Freundinnen und Freunde der Akademie des Erzbistums Paderborn, willkommen zu dem coronabedingt in den Oktober verschobenen Festakt unter dem Motto: »Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit« (Psalm 122). Friede – Shalom – meine mehr als Abwesenheit von Krieg, sondern die Fülle von Geborgenheit, umfassendes Glück und Wohlergehen und gemeinschaftliches Leben in gelingenden Beziehungen. In Kontrast zu dieser biblischen Verheißung stehe die Katastrophe des Zeitenbruchs der Shoah. Die Vernichtung von Jüdinnen und Juden habe eine Leerstelle gerissen und jüdisches Gemeindeleben ausgelöscht – dieses Schicksal der Juden in Deutschland müsse im Blick behalten, wer von einer gemeinsamen Zukunft spreche. Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 geschah sehr schleppend, nur allmählich entwickelten sich Gesprächsformate zwischen Juden und Christen. Heute frage man sich angesichts des Wiederauflebens von Antisemitismus und Gewalt gegen Juden jedoch, ob das Judentum schon zu Deutschland gehöre.

Die politische und soziologische Dimension von Antisemitismus erschloss Ruprecht Polenz, MdB a.D., 2005-2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, Vertreter der Bundesregierung im Dialog um den Völkermord an den Herero und Nama in Namibia und erster Träger des Communio-Preises für Dialog, Verständigung und Versöhnung der Katholischen Akademie Schwerte. »Nie wieder ‚Auschwitz‘!« sei die unbestreitbare Lehre aus der Geschichte, doch wie konnte es überhaupt erst zu »Auschwitz« kommen? Polenz erinnerte an den Historikerstreit in den 1980er Jahren, ob der Holocaust in der Geschichte ein einmaliges Ereignis gewesen sei oder es historische Vorbilder gegeben habe. Heute beobachte man ein »Wiederaufleben des Historikerstreits 2.0«, wenn behauptet werde, die Erinnerung an den Holocaust stehe der Erinnerung an andere Völkermorde im Weg. Zwei Aspekte sprächen jedoch für die Singularität dieses historischen Verbrechens: die Vorgehensweise (der industrielle Mord) und das Motiv (die Ermordung von Juden wegen dem, was sie waren, nicht was sie taten). Die Gleichsetzung mit Kolonialverbrechen sei falsch, sie relativiere den Holocaust als »nicht so schlimm, weil das andere auch gemacht haben«. Nach David Nierenberg gehöre die Distanzierung vom Judentum zum Kern westlichen Denkens. Ob frühes Christentum, Reformatoren, Vertreter der Aufklärung oder Karl Marx: Ins Judentum werde hineinprojiziert, wogegen sich die (vermeintliche) Mehrheitsgesellschaft jeweils abgrenzen wolle. Aus Abgrenzung wurde Ausgrenzung, daraus Vernichtung. Jüdinnen und Juden, mit denen er im Austausch stehe, habe er gefragt, was wir aus der Geschichte lernen sollen: Man solle darauf hinweisen, dass es nicht mit Auschwitz begann; jüdisches Volk und jüdischer Glaube sind nicht identisch; man solle weniger Energie verwenden zu betonen, dass die Juden zu uns gehören, als auf die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Überwindung von Ohnmacht und Unmündigkeit, die anfällig machen für Verschwörungstheorien. Man werde Antisemit, weil man jemanden zum Hassen braucht. Polenz definierte Antisemitismus als eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen sie oder religiöse Einrichtungen richtet, eine ablehnende Geisteshaltung, die durch Gewaltanwendung sichtbar wird. Gewaltloser Antisemitismus sei zwar nicht handgreiflich, komme aber aus der Mitte der Gesellschaft als subtile, oft unbewusste und meist überfreundliche Diffamierung. »Ob eine Aussage diskriminierend ist, entscheidet der Empfänger«. Kritik an Israel sei nicht an sich antisemitisch, aber das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen sehr wohl, ebenso wie die Klage über Israel an Juden hierzulande zu richten, weil sie Juden sind. Dies hebe den Unterschied zwischen Israel und der Gesamtheit der Juden auf. Im Kern sei antisemitisch, Juden die Individualität abzusprechen und sie kollektiv zu beurteilen. Nach Amartya Sen heiße Identität, dass Menschen nie nur einer Gruppe angehören. Ethnische Zugehörigkeit als Identitätsstempel ist Rassismus, nationale Zugehörigkeit als Identitätsmarker führt zu Nationalismus. Eine Abgrenzung der eigenen Identität von vermeintlich anderer Identität führt über Ausgrenzung zu Vernichtung. Wenn wir aber, wie Amartya Sen sagt, auf mannigfaltige Art verschieden sind, heißt das, dass wir viel gemeinsam haben. Was wir aus der Geschichte lernen können? Für Polenz geht es darum, wie jüdische Menschen sich unter nicht-jüdischen Menschen fühlen. Das sei sehr schön zusammengefasst in dem Psalmzitat der Veranstaltung: »Wenn alle in einer Gesellschaft sich sicher und geborgen fühlen, gibt es keinen Antisemitismus.«

Mit der Rabbinerin und Professorin für jüdische Religions- und Geistesgeschichte, Prof. Dr. Dr. h.c. Eveline Goodman-Thau, und Prof. Dr. Andor Izsák, dem Gründungsdirektor des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik der Musikhochschule Hannover und Leiter des Europäischen Synagogalchors, konnte Akademiedirektor Klasvogt zwei Menschen begrüßen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, in Deutschland Brücken zu bauen zwischen Juden und Christen, zwischen Israel und Deutschland. Über Video aus ihrer Heimatstadt Jerusalem zugeschaltet gab Goodman-Thau im Gespräch mit Akademie-Studienleiterin Prof. Dr. Stefanie Lieb einen Einblick in ihr Engagement um Versöhnung zwischen Juden und Christen. Geboren in Wien, emigrierte sie 1938 nach Holland, wo sie mit ihren Eltern bis 1945 versteckt wurde, und wanderte 1956 nach Israel aus. In den 1980er Jahren begann sie ihre umfangreiche Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten in Deutschland und gründete 1998 die Hermann-Cohen-Akademie für Religion, Wissenschaft und Kunst. 2001-02 war sie in Wien erste Rabbinerin Österreichs und ist bis heute Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie arbeite als Lehrerin und Wissenschaftlerin mit Studierenden, weil sei nicht wolle, dass die nächste Generation in Schuld aufwächst. Um Menschen aufzuklären, nehme sie Geschichte und ihre eigene Biografie zusammen. Sie beteilige sich am christlich-jüdischen Dialog, »damit ich gute Christen aus Christen mache, damit sie die Juden in Ruhe lassen,« äußerte sie mit einem Augenzwinkern und ernsthafter:  »damit sie das Fremde im Eigenen lieben lernen«. Rabbinerin, Lehrerin, Wissenschaftlerin zu sein, ist für sie untrennbar verbunden: Lernen und Beten gehören zusammen. Das Judentum habe, anders als die westliche Tradition, nicht getrennt zwischen Kopf und Herz; es habe keine absoluten, fertigen Antworten in der Tasche, sondern suche nach Bedeutung immer neu, in der jeweiligen Situation. Juden lebten aus dem Text und in einer Streitkultur, und so lehrt sie die Studierenden das Judentum. Sie zeigte große Zuversicht, anfangen zu können, aus der Katastrophe der Shoah herauszukommen – miteinander. An dieses Miteinander appellierte sie eindringlich, als sie das Auditorium um Unterstützung für ihr Land bat, das das »Hinterland Europa« verloren habe: »Bitte helfen Sie uns, unsere Demokratie in Israel zu retten. Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Enkel.« Am Ende des Gesprächs verriet sie das zentrale Motiv für ihren unermüdlichen Einsatz um Frieden und Versöhnung: Wir seien zwar, so Hans Jonas, in ein Buch des Lebens eingeschrieben; aber die Ermordeten sind es nicht. »Unser Leben muss diese Lücke füllen – so sehe ich unser Leben als Überlebende.«

Einen eigenen Akzent setzte der Organist, Musikwissenschaftler und Dirigent Andor Izsák, der am Klavier mit Gesang (von Bariton bis Falsett) und erklärendem Wort das Auditorium geistreich und humorvoll mit auf den Weg wechselseitigen Gebens und Nehmens von jüdischer und westlich-christlicher Musiktraditionen nahm. Erste Aufzeichnungen jüdischer Musik sind 3.500 Jahre alt und betreffen das jüdische Glaubensbekenntnis. Mit Beispielen demonstrierte er, wo sich ein solches Melodiestück in der abendländischen Musikgeschichte wiederfinden lasse: ob im Kirchenlied oder im Paris des 19. Jahrhunderts, bei Mozart, Verdi oder Chopin. »Das ist die Melodie, die uns begleitet und den Stoff gibt für das Lied in der Synagoge.« Auf »eine Perle der synagogalen Musik« richtete Iszák im Folgenden die Aufmerksamkeit mit Video-Einspielungen: Psalmenvertonungen des romantischen, deutsch-jüdischen Komponisten und Dirigenten Louis Lewandowski für Orgel und gemischten Chor – eine Aufnahme der Deutschen Grammophon mit Iszák als Dirigent erfolgte noch kurz vor der Pandemie. Verliebt habe er sich in diese Musik in seiner Budapester Heimatsynagoge mit großer Orgel, die in der Synagoge insgesamt erst spät Karriere machte, dann aber überall in den Synagogen gewesen sei – bis zur Vernichtung auch der Orgeln in den Synagogen durch die Shoah, die nicht wieder zurückkehren würden, auch wenn Iszák diese Hoffnung nicht aufgeben mag. Was aber bleibt, ist die Musik selbst, wie er immer wieder erfährt: »Da ist etwas, das uns in der Musik ergreift und uns verbindet. Ich muss nicht darum bitten, muss nicht mal dirigieren oder erklären. Trotzdem können die Menschen mitsingen.« Jüdische Liturgie sei nicht vorstellbar ohne Musik, denn es erklingt die Melodie, die uns alle verbindet.

Dieses Verbindende fand auch seinen Ausdruck in Musik und Gebet der anschließenden Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier in der Akademiekapelle unter der Leitung von Rabbinerin Natalia Verzhbovska, Bielefeld, und Weihbischof Matthias König, der den kurzfristig erkrankten Paderborner Erzbischof vertrat und dessen Ansprache verlas: Der Einsatz für ein friedliches Zusammenleben sei nicht nur staatspolitisch und zivilgesellschaftlich geboten. »Für uns, Christen und Juden, ist es ein Herzensanliegen«, das aufgetragen ist im Gebot »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du« (Lev 19,8). Frieden fördern, bedeute jedoch zugleich, für Gerechtigkeit zu sorgen; beides klinge im biblischen Zeugnis zusammen. Auch Rabbinerin Verzhbovska nahm den Shalom-Gedanken als gemeinsame Aufgabe auf. Sie erinnerte an die zahlreichen Impulse zur Erneuerung der jüdischen Tradition, die das weltweite Judentum im 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts von Juden in Deutschland erfuhr, zusammen mit einem zunehmenden Interesse am Christentum, das nach der Shoah wiedererwachte  in der Suche nach Gemeinsamkeiten im interreligiösen Dialog. Dessen Notwendigkeit zeige sich in den letzten Jahren nachdrücklich angesichts von gesellschaftsbedrohendem Antisemitismus, Judenhass, Intoleranz. »Uns jüdischen Menschen ist es leider zu gut bekannt, dass Shalom – der Frieden – ein sehr leicht zerbrechliches Gut ist und man ständig daran arbeiten muss, diesen Frieden zu pflegen und zu stärken« - und dies nicht nur auf der Ebene von Politik und Gesellschaft, sondern schon im täglichen Leben, weil hier, im Kleinen, Aggression und Unfreundlichkeit genauso gefährlich sind. »Wir haben noch nicht alle unsere Ziele erreicht, und viel Arbeit wartet auf uns. … Aber die Tatsache, dass eine liberale Rabbinerin mit Migrationshintergrund eine Rede beim Jahresempfang der Katholischen Akademie hält, zeigt uns, dass wir doch auf einem richtigen Weg sind.«

(Ulrich Dickmann, Katholische Akademie Schwerte)